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  • Forschende in China wollten genetisch veränderte Coronaviren aus Fledermäusen befähigen, in Zellen anderer Lebewesen vorzudringen – zu rein wissenschaftlichen Zwecken.
  • Das Hochsicherheits­labor in Wuhan soll dafür im Jahr 2018 14 Millionen Dollar Fördergeld in den USA beantragt haben. Washington lehnte ab.
  • Fanden die Experimente am Ende trotzdem statt – und ging dann etwas schief?

Matthias Koch | 25.09.2021, 21:55 Uhr

Das Thema ist ungewöhnlich kompliziert. Zugleich aber ist es auch ungewöhnlich aufregend. Es kann einem die Sprache verschlagen – sobald man die Zusammenhänge verstanden hat. Wie fasst man eine solche Sache an?

Der amerikanische Kongress­abgeordnete Mike Gallagher, ein 37 Jahre alter Republikaner aus Wisconsin, krempelte dieser Tage die Ärmel hoch und versuchte es – statt nur eine Pressemitteilung herauszugeben – mit einem Erklärvideo. Darin erzählt er die Geschichte von einem chinesisch-amerikanischen Forschungsvorhaben aus dem Jahr 2018, das jedem Menschen auf der Erde auch noch im Jahr 2021 die Haare zu Berge stehen lässt.

Es ging bei den Experimenten um sogenannte „Gain of function“-Forschung an Coronaviren. Präsident Barack Obama hatte solche Vorhaben im Jahr 2014 in den USA verboten aus Angst vor Laborunfällen, die zu einer Pandemie führen könnten. Seither wurde mehr denn je in China geforscht, auch mit Geld aus den USA.

Das Thema im Jahr 2018 war: Wie könnte man die in chinesischen Fledermäusen gefundenen Viren befähigen, besser in Zellen auch anderer Arten vorzudringen?

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Die Antwort lautete: Am besten verpasst man den Viren neue Furin-Spaltungsstellen (furin cleavage sites) – dann kommen sie durch. Anstelle von echten Menschen sollten sie im Rahmen der Tests „humanisierte Mäuse“ befallen.

Verlockende und gefährliche Experimente

Einzelne Vokabeln darf man als Nichtwissenschaftler getrost wieder vergessen. Entscheidend ist nur das Prinzip: Die „Gain of function“-Forschung dreht sich um neue, für Viren nützliche zusätzliche Eigenschaften. Und die veränderten Viren, die etwa Zellen in „humanisierten Mäusen“ öffnen und befallen können, können das auch bei Menschen.

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Gefährliche Organismen durch Experimente dieser Art auch noch zu optimieren erscheint auf den ersten Blick wie Forschung nach Frankenstein-Art. Doch es locken, wenn alles gutgeht, dramatische Fortschritte der Wissenschaft. Impfstoffe beispielsweise ließen sich auf diese Art entwickeln, lange bevor eine Epidemie oder gar eine Pandemie in Gang kommt.

Im vorliegenden Fall ging es nicht um einen chinesischen Alleingang, im Gegenteil. Das Hochsicherheits­labor in Wuhan war 2018 auf der Suche nach amerikanischen Geldgebern. China streckte die Hand aus in Richtung Amerika, mit dem Handrücken nach unten. Für das Projekt mit den Coronaviren sollen die Virologinnen und Virologen vom Wuhan Institute of Virology die Summe von 14 Millionen Dollar bei der Defense Advanced Research Projects Agency (Darpa) der USA beantragt haben.

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Die Darpa ist eine Regierungsbehörde, die dem US-Verteidigungs­ministerium untersteht. Sie koordiniert Forschungsvorhaben auf Feldern mit Relevanz für die nationale Sicherheit. Dazu zählt – schon seit der Gründung der Darpa in den Fünfzigerjahren unter Präsident Dwight D. Eisenhower – auch die Abwehr biologischer Attacken, etwa durch Viren.

Über den Antrag aus Wuhan berichtet jetzt die Recherchegruppe Drastic (Decentralized Radical Autonomous Search Team Investigating Covid-19) auf ihrer Website. Die Gruppe beruft sich auf einen Whistleblower. Der freilich bleibt – wie die meisten Mitglieder im Drastic-Team – anonym.

HIer eine der Besten Dokus zum Thema

US-Präsident Joe Biden hat amerikanische Geheimdienste beauftragt, dem Ursprung der Corona-Pandemie auf den Grund zu gehen.  © dpa

In den USA jedoch hat die Recherchegruppe inzwischen an Ansehen gewonnen, sowohl bei seriösen Medien wie in der Politik. Das US-Magazin „Newsweek“ lobte im Juni dieses Jahres die anonymen Rechercheure: „Dank Drastic wissen wir jetzt, dass das Wuhan Institute of Virology eine umfangreiche Sammlung von Coronaviren hatte, darunter engste Verwandte des Pandemievirus Sars-CoV-2.“

In Europa berichten über die jüngste Enthüllung von Drastic derzeit der britische „Telegraph“, die „Neue Zürcher Zeitung“ (NZZ), aber auch Medien in Frankreich und Italien. Einigkeit besteht darin, dass mit den Enthüllungen die Debatte um den Ursprung des Coronavirus in eine neue Runde geht.

Anfangs rückten alle zusammen – gegen Trump

Die Leaks sind noch lange kein Beweis für die Labortheorie. Dennoch sind sie politisch brisant. Denn sie legen die simple Frage nahe, ob China das Projekt, für das es Fördergelder wollte, später nicht auch ohne die Unterstützung aus den USA durchgezogen hat – und es dann eben doch zu einer Sicherheitspanne kam. Die These vom Laborunfall, schreibt die „NZZ“, bekomme jetzt „neue Nahrung“.

Im Zwielicht jedenfalls finden sich mittlerweile jene wieder, die einen „lab leak“ allzu früh und allzu schwungvoll ausgeschlossen haben.

Der „Telegraph“ beleuchtet jetzt einmal mehr die Rolle des britischen Zoologen Peter Daszak, des Chefs des amerikanischen Forschungs­verbunds Ecohealth Alliance. Der Verbund hatte zuvor auch schon diverse andere Vorhaben in China unterstützt. Daszak hatte auch den Antrag aus Wuhan im Jahr 2018 bei der Darpa unterstützt. In einem Tweet widerspricht Daszak jetzt auch nicht den Vorgängen selbst, warnt aber vor falschen Deutungen.

Daszak arbeitete über viele Jahre hinweg mit der Forscherin Shi Zheng-li aus Wuhan zusammen, einer international fachlich hoch geachteten, auf Fledermäuse spezialisierten Virologin, die in westlichen Medien gelegentlich als „Bat Woman“ vorgestellt wurde. Beide, sowohl Daszak als auch Shi, haben nach dem Ausbruch der Pandemie immer wieder der These von einem Laborunfall in Wuhan vehement widersprochen und auf die hohen Sicherheitsstandards verwiesen.

Tatsächlich gehört Wuhan zu den BSL-4-Labors, den Einrichtungen der weltweit höchsten Sicherheitsklasse. Zu dem hier geltenden Bio-Safety-Level gehören allerlei Schleusen und Unterdruck­einrichtungen, dazu umständliche und zeitraubende Prozeduren vor dem Verlassen der Einrichtung, etwa zweimaliges Duschen, teilweise mit zugesetzten Chemikalien. Zudem stehen alle Mitarbeiter ständig mit einer Sicherheitszentrale in Verbindung.

Bereits Anfang 2020 nahm Daszak die chinesischen Kollegen in Schutz. In einem von vielen Virologen weltweit mitunterzeichneten Brief an das britische Medizinmagazin „The Lancet“ schrieb Daszak: „Verschwörungs­theorien schaffen nichts als Angst, Gerüchte und Vorurteile.“ Zu den Mitunterzeichnern gehörte seinerzeit auch der deutsche Virologe Christian Drosten.

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Damals dominierte der Gedanke der weltweiten Kollegialität unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Auch wollte die Community gegen den damaligen US-Präsidenten Donald Trump zusammenrücken, der ohne Beweis das chinesische Labor beschuldigt hatte.

Inzwischen aber scheint sich unter Virologinnen und Virologen eine neuartige Ernüchterung mit Blick auf China breitzumachen. Dazu trug bei, dass die chinesische Regierung auch einer hochrangigen Gruppe der WHO keinen Blick auf Rohdaten des Labors in Wuhan gestattete.

Jetzt heißt es: „Ein Laborunfall ist plausibel“

Vor wenigen Tagen erschien, ebenfalls in „The Lancet“, ein von 16 Wissenschaftlern unterzeichneter „Appell für eine objektive, offene und transparente wissenschaftliche Debatte über die Entstehung von Sars-CoV-2“. Ausdrücklich wird dort die von Daszak und anderen ausgegebene Losung infrage gestellt, dass sich das Virus wahrscheinlich in der Natur entwickelt habe.

„Diese Erklärung“, tadeln jetzt die 16 Kritiker, habe leider „eine verstummende Wirkung auf die breitere wissenschaftliche Debatte, auch unter Wissenschafts­journalisten, ausgeübt“. In Wahrheit gebe es empirisch „keine direkte Unterstützung für den natürlichen Ursprung von Sars-CoV-2“. Dann folgen in dem neuen Appell vier Wörter, die einen weltweiten Widerhall haben: „Ein Laborunfall ist plausibel.“

Fake News? Stimmungsmache? „The Lancet“, gegründet anno 1823, ist die älteste und renommierteste medizinische Fachzeitschrift der Welt. Nie wurde in dem Magazin behauptet, dass diese oder jene Theorie über Wuhan zu beweisen sei. Mehr denn je aber trübt sich hier inzwischen das Bild des chinesischen Hochsicherheitslabors ein.

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Manchen Medizinern erscheinen die „Gain of function“-Experimente in Wuhan inzwischen wie der Beginn eines globalen Albtraums. Ein Corona-Experte der Weltgesundheits­organisation, der anonym bleiben wollte, nannte es gegenüber dem „Telegraph“ alarmierend, dass der Förderantrag aus Wuhan auch Pläne zur Veränderung des Mers-Virus enthalten habe: „Diese Viren haben eine Sterblichkeitsrate von über 30 Prozent, was mindestens eine Größenordnung tödlicher ist als Sars-CoV-2.“

„Es geht um die größte Katastrophe unserer Zeit“

Der amerikanische Kongress­abgeordnete Mike Gallagher kann unterdessen die Fülle von Unklarheiten rund um die Entstehung der Corona-Pandemie schon nicht mehr ertragen. „Genug ist genug“, schimpft der ungeduldige junge Mann, der erst seit 2017 im Kongress sitzt. Alle Dokumente müssten jetzt auf den Tisch. Auch müsse man den Zoologen Daszak, der die Anträge aus Wuhan unterstützt habe, zum Reden bringen: „Der US-Kongress muss ihn vorladen.“

In Washington hat jeder politische Spielzug immer auch eine parteipolitische Dimension. Sollen die von Gallagher geforderten Untersuchungen Anthony Fauci in Bedrängnis bringen, den obersten Immunologen der USA, der unter mehreren Präsidenten eine wichtige Rolle spielte und dem auch Joe Biden vertraut? Fauci soll in den Jahren nach dem Verbot von „Gain of function“-Forschung in den USA beträchtliche Fördergelder in Richtung China dirigiert haben.

Quelle

https://www.rnd.de/wissen/ein-alptraum-namens-wuhan-erst-panne-dann-pandemie-OLGSYZBC5ZCRBLGKX5FCB4T4EU.html

Hier einige Dokumente und Studien zum Thema

HIer die geleakten Dokumente zum Thread