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Ein Gastbeitrag von Gregor Amelung*

https://reitschuster.de/post/der-fall-karl-lauterbach-nicht-epidemiologie-studiert/

Prof. Dr. med. Dr. sc. Karl Lauterbach ist „Epidemiologe“ (Tagesschau) und „Fachmann für Epidemiologie“ (Focus). Also ein Experte – gerade jetzt in der vom Bundestag festgestellten „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“. Dass er das ist, sagte der Experte auch von sich selbst. Beispielsweise gegenüber den „Dein-SPIEGEL“-Kinderreportern: „Ich bin Epidemiologe und kann mich über mangelnden Einfluss nicht beklagen. Aber das bedeutet auch: Ich muss mir immer absolut sicher sein, dass richtig ist, was ich sage. Ich muss gut recherchieren.“

Epidemiologe Lauterbach vs. Virologe Streeck

Dass Lauterbach ein Experte auf dem Gebiet der Epidemiologie ist und dass diese Wissenschaft gleichberechtigt neben der Virologie steht, bekam auch Hendrik Streeck bei Markus Lanz zu spüren. Dort berichtete Streeck am 1. Juli 2020 über die Ergebnisse seiner Heinsberg-Studie und warb darum, das Coronavirus nicht zu „bagatellisieren“, aber auch nicht zu „dramatisieren“. SARS-CoV-2 sei kein „Killer“.

Streecks Team hatte in der schwer betroffenen Gemeinde Gangelt im Kreis Heinsberg eine Infektionssterblichkeit (infection fatality rate) von 0,37 % ermittelt. Damit war das Virus offenbar tatsächlich weniger tödlich, als zuvor angenommen. Noch im Februar 2020 war man von einer Fallsterblichkeit (case fatality rate) von 4,3 % im chinesischen Wuhan und 2,9 % in der Provinz Hubei ausgegangen, weil man die Dunkelziffer aller Infektionen nicht kannte, also all jene Fälle, die so mild verlaufen waren, dass die Menschen gar nicht zum Arzt gegangen waren. Bei der Heinsberg-Studie war das anders.

Als Streeck fortfuhr, dass vier Coronaviren bei uns ohnehin bereits vorhanden seien und unser Immunsystem diese kenne, schritt Lauterbach ein: „Ich muss ehrlich sagen, ich sehe das anders. Zunächst einmal, dieses [neue] Coronavirus hat mit den vier Coronaviren, die wir [bereits] haben, sehr wenig zu tun.“ – „Das stimmt nicht“, gab Virologe Streeck zurück, kam aber nicht weiter, denn Lauterbach schnitt ihm das Wort ab: „Ich spreche jetzt als Epidemiologe und auch als Arzt.“

Ich als Epidemiologe und Arzt

Das war schon grenzwertig. Lauterbach hat zwar Humanmedizin studiert und zwanzig Jahre danach auch seine Approbation erhalten, die er zuvor nicht beantragt hatte. Mit der hätte er dann auch uneingeschränkt als Arzt in Krankenhäusern oder in einer Praxis arbeiten können. Beides war im Jahre 2010 aber nicht sein Ziel gewesen. Der SPD-Gesundheitspolitiker war es vielmehr leid, vom politischen Gegner damit aufgezogen zu werden, dass er ja gar kein „richtiger Arzt“ sei. „Außerdem werde ich hin und wieder um medizinische Hilfe gebeten“, so Lauterbach. „Da ist es besser, auch tatsächlich eine Approbation zu besitzen.“ Und sich die Urkunde ins Berliner Büro zu hängen, kommentierte der „Spiegel“.

Insofern war Lauterbachs Ich-bin-Arzt-Statement formal korrekt. Trotzdem schrammte es angesichts der Corona-Krise hart an der Grenze zur Hochstapelei vorbei. Es ist nämlich nicht dasselbe, einem CDU- oder FDP-Gesundheitspolitiker zu entgegnen „Ich bin sehr wohl Arzt!“, oder sich vor einem Millionenpublikum in einer Pandemie den Anschein zu geben, als Arzt tätig gewesen zu sein. Also Patienten und deren Infektionskrankheiten von der Grippe bis hin zu den normalen Corona-Schnupfen-Viren aus dem Praxisalltag zu kennen.

Virologe Streeck schwieg, aber seine Miene sprach Bände, während Lauterbach fortfuhr: „Ich gehe da als Epidemiologe ran, der sich mit den Langfristkonsequenzen besonders beschäftigt.“ Also achte er „sehr genau darauf“, was für diejenigen zu erwarten sei, die das Virus bereits hatten, aber „nicht daran gestorben sind. Ich spreche jetzt [also] nicht von den 0,5 bis 1 Prozent, die daran sterben.“

Damit hatte Lauterbach mal eben Streecks 0,37 % Infektionssterblichkeit kassiert und erklärte weiter, dass er bei dieser Feststellung von einer breit angelegten Studie sprechen würde, die alle Ergebnisse zusammenfasse. Da musste der Zuschauer unweigerlich denken: Lauterbach = große Studie, Streeck = kleine Studie. Aus eben dieser „breit angelegten Studie“ leitete Lauterbach dann noch ab, dass das Erreichen der Herdenimmunität in Deutschland 250.000 bis 500.000 Menschenleben kosten würde.

Es war ein dystopischer Vortrag, den der Politiker Lauterbach allerdings nicht ohne Grund gehalten hatte. Direkt hatte er den harten Kurs der Bundesregierung verteidigt und indirekt das schwedische Modell mattgesetzt. Denn dem wurde in Deutschland hartnäckig unterstellt, die Herdenimmunität anzustreben. Da half es auch nichts, dass sich der schwedische Chef-Epidemiologe Dr. Anders Tegnell dagegen verwahrt hatte.

Margarine von Unilever

Seit Corona sind Lauterbachs Zahlen und Analysen gefragt. Das war nicht immer so. In der Vergangenheit kamen seine Berechnungen auch schon mal unter die Räder. So hatte er 2003 auf einem Symposium anlässlich des Europäischen Kardiologenkongresses in Wien eine Analyse über den Verzehr von Margarine vorgestellt. Lauterbachs Modellrechnungen hatten ergeben, dass sich die Fälle koronarer Herzerkrankungen innerhalb von 10 Jahren um 117.000 senken ließen, wenn gefährdete Personen ihren Fettverzehr auf Margarine mit pflanzlichen Phytosterinen umstellen würden. Trotz der von ihm errechneten Einsparungen im Gesundheitswesen von 1,3 Milliarden Euro erntete Lauterbach Kritik.

Zum einen nahm man daran Anstoß, dass er seine Erkenntnisse auf einem Symposium des Unternehmens Unilever vorgestellt und dessen Margarine „Becel ProActiv“ promotet hatte. Zum anderen wurden die statistische Methodik der Rechnung und die leichtfertige Übertragung US-amerikanischer Bevölkerungsdaten auf Europäer kritisiert. Drei Jahre zuvor war es mit einer Studie über den Cholesterinsenker Lipobay nicht gut gelaufen. Und auch eine Studie zur Qualität von Röntgenuntersuchungen überzeugte „auf Grund methodischer Mängel“ nicht.

Inzwischen hat sich die Welt weiterentwickelt. In der Corona-Krise gelten Lauterbachs Zahlen und Worte etwas. Fast 400.000 folgen dem Epidemiologen alleine auf Twitter. Millionen andere sehen, hören oder lesen seine Analysen in Talkshows, Interviews oder als Zitat. Und obwohl das „viele nervt“, schrieb „Die Zeit“ zum Beginn des zweiten Lockdowns: „Er hat’s geahnt“.

Dr. med. Angela Spelsberg

Für die Meinung von Lauterbachs Ex-Frau interessiert sich derweil niemand. Bereits am 1. April 2020 hatte die Ärztin die Landesregierung von NRW in einem „Offenen Brief“ aufgefordert, „umgehend die Ermittlung bevölkerungsbezogener Daten über die tatsächliche Gefahrenlage [durch SARS-CoV-2] zu veranlassen und damit wieder handlungsfähig zu werden, um alle nicht evidenz-basierten Maßnahmen sofort beenden zu können.“ De facto verlangte das Schreiben eine Neuausrichtung der Corona-Politik, fand aber keinerlei Gehör. Und das, obwohl Dr. med. Angela Spelsberg Epidemiologin ist. Seit 1996 leitet sie das Tumor-Zentrum am Universitätsklinikum Aachen, das sich beispielsweise mit der Verbreitung und Vorsorge von Brustkrebs beschäftigt.

Dr. med. Angela Spelsberg beim Talk im Hangar 7 am 28. August 2020 (Screenshot Youtube)

Einige Monate nach ihrem offenen Brief war Spelsberg dann zu Gast beim „Talk im Hangar-7“. Zu der Expertenrunde zum Thema Corona hatte der österreichische Sender ServusTV auch eine Intensivmedizinerin des Uniklinikums Innsbruck und einen Aerosol-Experten geladen. Irgendwann kam Moderator Michael Fleischhacker dann auch auf Spelsbergs früheren Ehemann zu sprechen, denn: „Sie und Ihr Ex-Mann Karl Lauterbach haben ja gemeinsam in Harvard studiert, und da frage ich mich als Laie: wenn zwei Menschen an einer Spitzen-Uni das gleiche studieren, dann –„ Weiter kam Fleischhacker nicht, denn Spelsberg unterbrach ihn und erklärte: „Nein, er hat ja nicht das gleiche studiert wie ich. Er war in Health Policy and Management. Ich war in Epidemiologie.“

Lauterbachs Ex stichelt ‘süffisant’

Ohne sich für weitere Details zu interessieren, nahm die „Berliner Zeitung“ den SPD-Politiker am nächsten Tag in Schutz und titelte: „Karl Lauterbachs Ex-Frau stichelt gegen seine Corona-Politik“. Im Artikel selbst kürzt man dann den Moment der Frage ein und berichtete der Leserschaft: „Als er [der Moderator] ansetzt, um zu fragen („wenn zwei Menschen an einer Spitzenuniversität dasselbe studieren …“), unterbricht ihn Spelsberg und stellt süffisant fest: „Nein, er hat ja nicht das gleiche studiert wie ich. Er hat Health Policy und Management studiert und ich Epidemiologie.“

Den Moment kann man wohl als „süffisant“ beschreiben, muss es aber nicht. Es ist in jedem Fall eine sehr weitgehende Interpretation der „Berliner Zeitung“. Mit der sie durchaus Recht haben könnte, denn es war nach der Trennung des Ehepaars Spelsberg-Lauterbach 2004 zu einem Rosenkrieg gekommen. Liest man allerdings in Lauterbachs Doktorarbeit hinein, zerbröckelt der von der BZ nahegelegte Verdacht.

Keine „wissenschaftliche Arbeit“ im klassischen Sinn

Lauterbachs Dissertation aus dem Mai 1995 trägt den Titel „Justice and the Functions of Health Care / Gerechtigkeit und die Funktionen des Gesundheitswesens“.

Eine „wissenschaftliche Arbeit“ im klassischen Sinn sei die Dissertation jedoch nicht, sondern eher „ein normativer Essay“, so ein Harvard-Professor, den der Mediziner und Buchautor Dr. Gunter Frank zitiert. Eingereicht wurde der Essay „bei der Fakultät der Harvard School für Öffentliche Gesundheit / to the Faculty of The Harvard School of Public Health“ und ist heute einsehbar auf Lauterbachs Homepage. Allerdings nur, weil man 2015 öffentlich Druck auf den SPD-Fraktionsvorsitzenden Thomas Oppermann gemacht hatte, er möge den Genossen Lauterbach doch bitte zu mehr Transparenz ermahnen. Auf die anschließend veröffentlichte Dissertation warf dann auch ein ehemaliger Dozent der Bundeswehrhochschule einen Blick und stellte ernüchtert fest, dass er sie nicht mal als Seminararbeit akzeptiert hätte.

Titelblatt der Dissertation zum „Doctor of Science in the Field of Health Policy and Management / Doktor der Wissenschaften im Bereich Gesundheitspolitik und -management“ an der Universität Harvard 1995 (Website Prof. Karl Lauterbach)

Lauterbachs Doktorarbeit ist tatsächlich recht dünn. Die insgesamt 118 Seiten weisen überraschend wenige Fußnoten und direkte Zitate auf. Das gilt auch für die Ethik des Philosophen Immanuel Kant (1724–1804), die den Kern von Lauterbachs zweitem Kapitel bildet. Statistiken, Tabellen oder Tortengrafiken zu Krankheiten, Epidemien, Fall- und Infektionszahlen oder mathematische Formeln sucht man vergebens. Lediglich auf den Seiten 11 und 13 gibt es einige wenige Zahlen zur Lebenserwartung und zu Krebstoten. Ansonsten ist das Werk eine Abhandlung über ethische und wirtschaftliche Aspekte des öffentlichen Gesundheitswesens.

NDR-Podcast ‘Coronavirus-Update’

Das passt zu Spelsbergs „süffisantem“ Statement über ihren Ex-Mann – nicht aber dazu, wie Lauterbach in den deutschen Medien bezeichnet wird. Hier heißt es: der „Epidemiologe Karl Lauterbach“ (tagesschau.de), der „Epidemiologe Prof. Karl Lauterbach“ (phoenix), der „Arzt, Epidemiologe und Politiker“ (ndr.de), der „Arzt, Epidemiologe [und] Professor“ (Cicero), der „Fachmann für Epidemiologie“ (Focus), „der gelernte Epidemiologe und Gesundheitsexperte“ (rp-online) und der „promovierte Mediziner und studierte Epidemiologe“ (merkur.de).

In diesem Gleichklang bildet ausgerechnet Prof. Christian Drosten eine Ausnahme. Der nannte Lauterbach in seinem NDR-Podcast am 12. Mai 2020 einen „SPD-Medizinexperten“, der „von seiner Grundausbildung Epidemiologe“ ist. Drostens Wortwahl war auch deshalb ungewöhnlich, weil er die Berufsbezeichnung „Epidemiologe“ ansonsten durchaus benutzt. Auch in seinem Podcast. Da gibt es italienische Epidemiologen, theoretische, führende, erfahrene, weitblickende – und auch von Nicht-Epidemiologen spricht Drosten.

War das Zufall? Eine semantische Fehlleistung, die jedem mal passiert? – Möglich. Trotzdem irritierte das präzise Wort von der „Grundausbildung“. Man verbindet es eigentlich mehr mit der Bundeswehr. Dort steht die Grundausbildung ganz am Anfang. Die akademische Ausbildung zum Epidemiologen tut aber genau das nicht. Sie kommt nach Grund- und Hauptstudium als Aufbau- oder Postgraduiertenstudium. Genauso wird sie heute auch an der Wirkungsstätte von Christian Drosten, der Berliner Charité, angeboten. Die Ausbildung dauert zwei Semester in Voll- und vier Semester in Teilzeit. Voraussetzung sind: ein Hochschulabschluss und Berufserfahrung. Mit einer „Grundausbildung“ hat das Ganze also recht wenig zu tun.

Rätselhaft an Drostens Äußerung war zudem, dass sie den Verdacht nahelegte, Lauterbach habe womöglich nie als Epidemiologe praktisch gearbeitet. – Wo also ist die Epidemiologie in Lauterbachs Lebenslauf?

Von Düren nach Harvard

Geboren wurde Karl Lauterbach 1963 in Düren bei Köln. Ab 1982 studierte er Humanmedizin. Seine damaligen Betreuer kamen weder aus den in der Corona-Pandemie wichtigen Bereichen der Lungenheilkunde noch der Infektionsmedizin. Prof. Ludwig E. Feinendegen (ab 1985) ist Strahlenmediziner und Prof. Dennis Patton (1987) ist Radiologe.

1990, so Lauterbachs Lebenslauf auf seiner Webseite, machte der damals 27-jährige dann seine Promotion zum Doktor der Medizin an der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität. „Weiterentwicklung des Parametric Gammascopes auf der Grundlage von experimentellen und klinischen Studien“ ist der Titel seiner Dissertation, die laut der Deutschen Nationalbibliothek im Jahr 1991 veröffentlicht worden ist. Sie ist 110 Seiten lang und befasst sich mit einer Studie zu einem nuklearmedizinischen Diagnoseverfahren. In der Studie maß man bei 18 männlichen und 7 weiblichen Sportlern auf einem Fahrradergometer unter anderem die Pulsfrequenz, die Sauerstoffaufnahme und die Laktatwerte.

Parallel dazu studierte Lauterbach bereits seit 1989 an der Harvard School of Public Health in den USA. Auf Lauterbachs Website heißt es dazu detaillierter „1989-1990 Master of Public Health (MPH)… mit [den] Schwerpunkten Epidemiologie und Health Policy and Management“. Der MPH ist ein interdisziplinäres Aufbaustudium, in dem heute etwa folgende Inhalte typisch sind: Arbeitsmedizin, Beobachtung und Monitoring, Design von Studien und deren Durchführung, Epidemiologie, Gesundheitsökonomie, medizinische Statistik, Projektmanagement, Sozialversicherungs- und Krankenversorgungssysteme, Qualitätssicherung, Vorsorge, Wissenschaftliches Arbeiten (z. B. wissenschaftliches Publizieren).

Ausschnitt aus dem Lebenslauf von Prof. Karl Lauterbach (Website Prof. Karl Lauterbach)

Master of Science in Epidemiology

Sehr wahrscheinlich hat Lauterbach seinen MPH im Wintersemester 1989/90 und Sommersemester 1990 gemacht. Nach den von ihm angegebenen Schwerpunkten käme man rein rechnerisch auf ein Semester Epidemiologie und ein Semester Gesundheitspolitik und Management. Das erscheint recht dünn, um sich heute als Epidemiologe zu bezeichnen.

Und während Lauterbach für sich den Abschluss „Master of Science Health Policy and Management“ in seinem Lebenslauf angibt, absolvierte seine damalige Ehefrau zwischen 1991 und 1995 ein Postgraduiertenstudium der Epidemiologie und schloss es mit dem „Master of Science in Epidemiology“ ab. Und genauso heißt der akademische Abschluss auch heute beispielsweise an der Berliner Charité.

Kein Wunder also, dass die Epidemiologin, von „Bild“ nach ihrer „Attacke“ auf ihren Ex beim Talk im Hangar-7 befragt, erklärte: „Eine andere wissenschaftliche Auffassung [über die Corona-Maßnahmen] zu vertreten, ist keine Attacke gegen ihn. Er hat einfach ein anderes Fach studiert, hat sich in die Gesundheitsökonomie begeben.“

Master of Science in Epidemiology (Website Berlin School of Public Health / Charité Universitätsmedizin Berlin)

Bis das Wort „Epidemiologie“ im Werdegang ihres späteren Ex-Mannes wieder auftaucht, vergehen acht Jahre. Zuvor ist Lauterbachs Aus- und Weiterbildung die eines Gesundheitsökonomen, nicht die eines Epidemiologen. Auch seine Berater, Fachbereichsleiter und seine beiden Doktorväter weisen ihn als solchen aus: Arthur Applbaum, Philosoph (1992); Michael Reich, Politikwissenschaftler (vermutlich 1992 und / oder 1993); Lynn Peterson, Chirurg und an der Harvard Medical School in der Funktion als Dozent für Sozialmedizin tätig (1993); Marc Roberts, Experte für Gesundheitssysteme (1992–1995); Amartya Sen, Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph (1992–1995).

Institut für Gesundheitsökonomie an der Uni Köln

Nach seiner Doktorarbeit kehrte Lauterbach dann zurück nach Deutschland, wo er zwei Jahre lang als Privatdozent an der Uni Köln tätig war. „Während dieser Zeit habe ich der Universität den Gedanken an ein Institut für Gesundheitsökonomie nahegebracht“, so Lauterbach. 1997 wird seine Idee in die Tat umgesetzt. Ein „kleines Institut über einem Supermarkt an einer Durchgangsstraße“, wie es der Spiegel beschreibt. Größer als die Neugründung ist ihr Name: Institut für Gesundheitsökonomie und Klinische Epidemiologie der Medizinischen Fakultät der Universität zu Köln.

1998 wird Lauterbach dann zum Direktor der Neugründung ernannt. Damit war gleichzeitig seine Berufung zum Professor verbunden. Mit Dingen wie einer Epidemie (auch Seuche genannt) beschäftigt sich das Institut allerdings nicht. Sondern mit Studien zu einem Cholesterinsenker, einem Appetitzügler, zu Margarine und zur Qualität von Röntgenuntersuchungen. Und auch der Direktor selbst arbeitet nicht als Epidemiologe, sondern als Gesundheitsökonom. Die Themen seiner Publikationen sind Informationstechnologie im Gesundheitswesen (1999), Fallpauschalen (2000), Gesundheitsökonomie (2001), Kostenexplosion im Gesundheitswesen (2003), Bürgerversicherung (2004) oder die Gesundheitsprämie (2005).

Homo politicus

Parallel dazu befasst sich Lauterbach mit Politik. Von 1995 bis 2005 ist er Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen, 2003 sitzt er in der von Kanzler Schröder einberufenen Kommission zur Untersuchung der Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme, kurz „Rürup-Kommission“ genannt.

Mit seinem Einzug in den Deutschen Bundestag im Jahre 2005 verlässt Lauterbach dann seine Kölner Wirkungsstätte und geht nach Berlin. Dort betreibt der „Homo politicus“ (Lauterbach über Lauterbach) genau das, womit er sich bereits in Harvard beschäftigt hatte: “Health Policy / Gesundheitspolitik“.

15 Jahre später und in einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ bezeichnet sich Lauterbach nun als Epidemiologen. Auf der Basis von ein paar Vorlesungen, die 30 Jahre zurückliegen und auf Grund von einem Wort im Namen eines 1997 neu gegründeten Instituts der Uni Köln. Gestützt wird diese Charade von der recht weit gefassten Definition der Disziplin Epidemiologie: „Wissenschaft von der Entstehung, Verbreitung, Bekämpfung und den sozialen Folgen von Epidemien, zeittypischen Massenerkrankungen und Zivilisationsschäden“.

Damit und mit seiner Margarine-Studie bewaffnet, ist es Lauterbach glatt zuzutrauen, dass er das nächste Mal von seiner „langjährigen praktischen Erfahrung als Epidemiologe“ spricht. Angesichts der Infektionskrankheit Covid-19 ist Lauterbachs Statement „Ich bin Epidemiologe“ allerdings Hochstapelei. Wie hoch, lässt sich an der Definition einer „Epidemie“ ablesen: „Auftreten einer ansteckenden Krankheit in einem bestimmten begrenzten Verbreitungsgebiet (wobei eine große Zahl von Menschen gleichzeitig von der Krankheit befallen wird)“.

Top-Wissenschaftler zum ‘Statistiker’ herabgestuft

Trotzdem macht der Gesundheitsökonom munter weiter. Im Oktober brachte er das Kunststück fertig, John Ioannidis, einen international anerkannten Wissenschaftler, als „Statistiker“ zu bezeichnen. In einem simplen Tweet (17.10.) stutzte der Rheinländer das akademische Schwergewicht aus den USA auf das in Deutschland übliche Maß zurecht: „Immer wieder wird auf diese Studie eines Stanford-Statistikers hingewiesen. 2 Dinge: Arbeit ist methodisch sehr umstritten, [ein] Außenseiter …“

Verblüfft twitterte ein User zurück: „Was heißt denn Stanford-Statistiker? Die Metastudie stammt von John P. A. Ioannidis, Professor für Medizin und Epidemiologie an der Stanford-Universität. Laut Berliner Einstein-Stiftung gehört er aktuell zu den zehn meistzitierten Wissenschaftlern der Welt.“

Man kann sagen, Lauterbach hat ein gesundes Selbstvertrauen. Dass der 58-Jährige so selbstbewusst ist, ist seine Sache. Wir leben schließlich in einem freien Land. Jeder darf hier über wissenschaftliche Studien referieren oder einen Frosch für ein Säugetier halten. Privat und auch in der Öffentlichkeit.