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Das Damoklesschwert der Inzidenzzahlen und die Fallstricke der Lockdown-Politik

Die Corona-Krise hat ein gesellschaftliches Klima der Angst geschaffen, wie seit Kriegszeiten nicht mehr. Angst ist hochgradig wirksam, wenn es darum geht, bei ernsthaften Gefahren für die Gesellschaft Normenkonformität in der Bevölkerung zu erzielen und einschneidende Verhaltensänderungen zu bewirken. In der unübersichtlichen Lage zu Beginn der Pandemie gab es wohl keine Alternative dazu, saß doch auch den Regierenden der Schreck nach dem plötzlichen Auftreten des neuen Virus – und den Fernsehbildern aus Italien – in den Knochen. Mittlerweile sind die sozialen und politischen Verwerfungen einer pandemischen Angstpolitik allerdings mit Händen zu greifen. Deshalb ist es überfällig, über Alternativen zum „Regieren durch Angst“ nachzudenken. Denn Angst ist ein zweischneidiges Schwert: Sie kann sich leicht eigendynamisch verstärken und ungewollt verselbständigen. In der Sphäre der Politik wird die Angst zudem gerne als Ressource für Machtspiele aufgerufen. Die soziale Eigengesetzlichkeit der Angst zusammen mit ihrer politischen Indienstnahme kann schließlich in einem sozio-politischen Systemwechsel münden, der die Demokratie beschädigen und die politische Moral untergraben könnte.

Angst und Compliance

Furcht und Angst entstehen durch die Wahrnehmung einer realen oder fiktiven Gefahr, die die Sicherheit oder das Wohlergehen der Individuen oder eines Kollektivs bedroht. Diffuse, entfesselte, irrationale Angst ist seit jeher eine unverzichtbare Quelle von Macht und Herrschaft. Sie ist für politische, vor allem staatliche Zwecke bestens einsetzbar, weil sie als eines der stärksten Motive der Fügsamkeit wirkt. Wer Angst hat, sucht Schutz bei Stärkeren und unterwirft sich deren Autorität. Furcht vor wirtschaftlicher Ausbeutung, Armut oder Einkommenseinbußen ließ politische Assoziationen, wie Gewerkschaften und sozialistische Parteien entstehen. Ängste vor sozialem Abstieg und Prestigeverlust, typischerweise des Mittelstandes, gaben nationalistische Bewegungen, wie dem Nationalsozialismus mächtigen Auftrieb. Ängste vor kollektivem Identitäts- und Prestigeverlust, vor Verletzung des Nationalstolzes und Geltungsverlust des eigenen Staates, leisten vielfach einem Aufstieg von antisemitischen, chauvinistischen und fremdenfeindlichen Bewegungen Vorschub. Hinzu kommen „Überfremdungsängste“, Angst vor Strafe, Angst vor Not und Sinnverlust, Angst vor Konkurrenz – solche Bedrohungsszenarien lassen sich bestens für die politische Machtbildung und Verhaltenssteuerung ausnutzen.

In der Corona-Krise erweisen sich die Erzeugung und Aufrechterhaltung eines relativ hohen gesellschaftlichen Gefahren- und Angstniveaus von Anfang als zentrale Steuerungselemente der Pandemiepolitik. Die Furcht vor Gesundheitsgefahren wurde durch ein dramatisierendes und angsterzeugendes Regierungshandeln wenn nicht verursacht, so doch mindestens verstärkt. Mit dem Schutz von Leben und Gesundheit der Bevölkerung als zentraler Leitidee der Pandemiepolitik wurde eine biologisch-existenzielle Grundbedingtheit menschlicher Existenz als letztentscheidendes Kriterium politischen Handelns definiert. Das mündet in eine verhängnisvolle Paradoxie: Ein prinzipiell apolitisches Element der human condition, über das, wenn überhaupt, nur in ethischen Kategorien befunden werden kann, erfährt eine verhängnisvolle Politisierung, indem es zum Fluchtpunkt staatlichen Regierungshandelns gemacht wird. Damit bürdet sich die Exekutive eine Entscheidungslast in einer ethischen Kardinalfrage auf, die sie angesichts der funktionalen Komplexität und sich vielfach kreuzender Wertbeziehungen spätmoderner Gesellschaften überfordern muss. Soll dann politische Führungskraft bewiesen werden, muss im Zweifelsfalle die öffentliche Debatte unterbrochen und die Angst vor dem Tod als Hintergrundsmelodie angestimmt werden. An die Stelle von Meinungsaustausch, Interessenvermittlung und Kompromissfindung, den Grundmechanismen liberalen Demokratien, tritt dann das Postulat der fundamentalen Alternativlosigkeit, was die von Regierungsseite getroffenen Entscheidungen betrifft, sowie massiver Konformitätsdruck. Damit ist der Weg in einen autoritären Politikstil vorgezeichnet, und an die Stelle rationaler Diskurse tritt die irrationale Angst als zentrales Steuerungsmedium der Politik.

Dabei stand am Anfang der Pandemie nicht einmal die Furcht der Leute vor einer Ansteckung mit dem neuen Virus im Zentrum. Zur Verbreitung der Angst trugen unter anderem Virologen und vermutlich sachlich überforderte, aber machtpolitisch agile Politiker, wesentlich bei. Das belegt ein Strategiepapier des Bundesinnenministeriums vom April 2020, in dem ganz unverblümt das Erzielen einer „Schockwirkung“ in der Bevölkerung angestrebt wurde. Dabei sollten unter anderem „Urängste“, wie die Angst vor dem Erstickungstod und vor der Ohnmacht der Angehörigen, geweckt werden. Das Gefahren- und Angstlevel in der Gesellschaft wird seitdem durch alarmierende Fernsehansprachen der Bundeskanzlerin, Verlautbarungen des RKI sowie apokalyptische Visionen nicht scheuende Talkshow-Experten auf einem hohen Niveau gehalten. Das funktioniert selbst dann, wenn in den Krankenhäusern nachweisbar mehr als die Hälfte der verfügbaren Intensivbetten nicht belegt und die Zahl der „an und mit“ Corona Verstorbenen deutlich rückläufig ist (Von den samt Notfallreserve in Deutschland verfügbaren ca. 40.000 Intensivbetten waren selbst am Gipfel der zweiten Pandemiewelle  zu keinem Zeitpunkt mehr als 20.000 Betten belegt, unabhängig von den behandelten COVID-19-Patienten).

Mag die Furcht vor einer Erkrankung in der Bevölkerung sich auch allmählich abschwächen, weil immer deutlicher wird, dass das Erkrankungs- und Sterberisiko hauptsächlich auf die Hochbetagten begrenzt bleibt, ist längst bei vielen ein weiteres Schreckensszenario hinzugetreten: der Lockdown und die damit verbundenen weiteren Verschärfungen der Maßnahmen. Kita- und Schulkinder, Eltern, Alleinerziehende, Einzelhändler, Gastronomen, Kulturschaffende so gut wie aller Sparten, Studierende und viele gesellschaftliche Gruppen mehr erleben die Lockdownzyklen mittlerweile als einen nicht enden wollenden Albtraum.

Angstpolitik als Biopolitik

Angst ist eines der probatesten Mittel zur individuellen sowie kollektiven Affektmodellierung und Verhaltenssteuerung. Wer Angst hat, unterwirft sich dem sozialen Druck und passt sich den geforderten sozialen Normen und Verhaltensstandards leichter an. Angst fördert die Internalisierung von gesellschaftlichen Normen, mithin deren Verankerung im individuellen Gewissen. Aus den Forschungen zum Zivilisationsprozess von Norbert Elias ist bekannt, dass einmal verfestigte Affekt- und Verhaltensstandards eine lange Halbwertzeit haben, die oft mehrere Generationen lang strukturprägend für die Gesellschaft bleiben. Daher eignet sich Angst besonders für das manipulative Regieren von Bevölkerungsmassen, für „Biopolitik“, wie Michel Foucault es nannte. Das Besondere an der Biopolitik ist, dass sie sich elementarer Mechanismen der human condition zunutze macht, wie eben die Angst vor Krankheit und Tod, Schuldgefühle, die Furcht vor Strafe und Kränkung sowie von Panikreaktionen. Das bevorzugte Objekt von Biopolitik ist zudem der physische Körper des Menschen. Sie manifestiert sich daher in einer Politisierung, Kategorisierung und Bürokratisierung der biologisch-medizinischen Dimension des menschlichen Lebens. Nicht zufällig stehen an den historischen Anfängen der Biopolitik im 19. Jahrhundert Hygieneregeln und die Krankheitsstatistik. Einen Schub erfuhr die Biopolitik aber vor allem nach der Spanischen Grippe in den 1920er Jahren dadurch, dass in vielen Ländern erstmals die Funktion des Gesundheitsministers mit Sitz und Stimme in den Kabinetten geschaffen wurde. Damit wurde die öffentliche Gesundheit, um die sich zuvor meist Privatleute, Kirchen und karitative Organisationen gekümmert hatten, zu einer Angelegenheit des Staates. Gesundheitspolitik wurde dadurch politisiert, womit sie Chancen für staatliche Instanzen eröffnet, ihren Einfluss auf die Bevölkerung weiter auszudehnen.

Ein weiterer Aspekt von säkularer Angstpolitik ist das Hervorrufen von Schuldgefühlen. In der aktuellen Pandemie sind öffentliche Schuldzuweisungen gang und gäbe. Sie haben sich in die Alltagsrituale eingeschrieben. Wer sich nicht an die Abstandsvorschriften, die Maskenpflicht, Test- oder Quarantäneauflagen hält, soll sich schuldig fühlen. Die Verletzung der Regeln könnte Mitmenschen in Lebensgefahr bringen und die Gesundheit des Volkes bedrohen. Die Maske schützt aber nicht nur vor Infektionen, sie ist darüber hinaus zum unübersehbaren Symbol der pandemischen Angstpolitik geworden. Sie zeigt nicht nur den erreichten gesamtgesellschaftlichen Durchdringungsgrad des angstbesetzten Selbstzwanges in der Bevölkerung an.

Das Damoklesschwert Inzidenzzahlen

Als mit Abstand wirkungsvollstes Instrument der gesamtgesellschaftlichen Angststeuerung erweist sich in der Corona-Krise aber die tägliche Veröffentlichung der Inzidenzzahlen, des Anteils der Positivgetesteten pro 100.000 Einwohner. Gehen sie hoch, steigt der Angstpegel in der Gesellschaft merklich; gehen sie runter bleibt die Furcht vor einer Rücknahme der „Lockerungen“. Die jeweils nächste Welle wirkt als ständige Drohkulisse. Mit einer anhaltenden Entspannung der emotionalen Gesamtlage in der Bevölkerung wird deshalb in absehbarer Zeit nicht zu rechnen sein.

Die gesellschaftliche Affektsteuerung mittels der Inzidenzstatistik hat zudem die sich selbst verstärkende Angst vor der Angst zu einem effizienten Medium der politischen Machtakkumulation werden lassen. Der Schein der wissenschaftlich-virologischen Rationalität und Unanfechtbarkeit täuscht allerdings: Die Inzidenzzahl, an sich schon ein unterkomplexer Indikator für das Infektionsgeschehen, da sie nicht das tatsächliche klinische Erkrankungs-. Therapie- und Belastungsbild wiedergibt, ist längst zu einem Politikum geworden. Das zeigt schon der Kompromisscharakter der in den Ministerpräsidenten­konferenzen festgelegten jeweiligen Höchstzahlen für das Auslösen des „Notbremsen“-Mechanismus, der für die Rücknahme von „Lockerungen“ beschlossen wurde, aber auch die Sonderregelungen und Alleingänge einzelner Bundesländer. Es liegt auf der Hand, dass hier Wahltaktik entscheidend mit im Spiel ist. Unglücklicherweise stehen in diesem Jahr in Deutschland noch zahlreiche Landtagswahlen und die Bundestagswahl an. Längst überlagern Parteienkämpfe und Machtkalküle daher die Pandemiebekämpfung. Eine herausgehobene Rolle spielt dabei die große Masse der Wählerinnen. Der Emanzipationsstand der Frauen in Beschäftigungsverhältnissen droht durch Kita- und Schulschließungen, Homeschooling und Homeoffice um Jahrzehnte zurückgeworfen zu werden. Ein Kapitel für sich ist die allgemeine Pandemiemüdigkeit in der Bevölkerung, die die Zustimmungsraten für die Politiker, die einen härteren Kurs vertreten, deutlich sinken lässt. Umfragewerte zu den psycho-sozialen Belastungen der Bevölkerung fließen so immer wieder in die Festlegung der Inzidenzhöchstzahlen, die als Richtwerte für das Öffnungs-Schließungs-Wechselbad immer mit ein. Eine Festlegung von Richtwerten nach politischen Stimmungen und Verhandlungen untergräbt jedoch die Evidenz- und Orientierungsfunktion von wissenschaftlichen Fakten. Die Exaktheit der Mess- und Zielkriterien degeneriert so zum Mythos, zum suggestiven Symbol der Manipulation des Gefährdungs- und Angstniveaus in der Corona-Gesellschaft

Gibt es Alternativen zur Angstpolitik?

Gibt es in einer Pandemie wie der gegenwärtigen Alternativen zu einer Politik der Angst? Gewiss! Das zeigt im Grunde schon der der bisher übliche Umgang der Gesellschaft mit den vielfältigen Risiken, die etwa mit der Kernenergie, den Verkehrssystemen, dem Terrorismus, den Krankenhauskeimen oder den vielen lebensstilbedingten Erkrankungen (Alkoholsucht, Rauchen, Fettleibigkeit usw.) verbunden sind. So wie diese tagtäglich weitgehend lautlos von der Gesellschaft verarbeitet und absorbiert werden, müsste auch in einer Pandemie verfahren werden können: pragmatisch, unaufgeregt und durch den Ausbau oder die Entwicklung von spezialisierten Funktionssystemen, die einer effektiven Einhegung des Infektionsgeschehens und einer optimalen Versorgung der Erkrankten dienen. Dabei ginge es zum einen darum, die praktische Pandemiebekämpfung primär der Ärzteschaft und den Kliniken zu überlassen. Das sollte mit einem massiven und beschleunigten Not- und Ausbauprogramm im Gesundheitswesen verbunden werden, d.h. (Nach-) Qualifizierung von Personal, Erweiterung der (Intensiv-)Bettenkapazitäten und Ausrüstung in den Krankenhäusern. In diese Richtung weisen auch die Empfehlungen zur allgemeinen Vorbereitung auf Pandemien, die die amerikanische National Academy of Medicine bereits im Jahre 2016 erlassen hat. Als absolut kontraproduktiv erweist es sich, in dieser Situation in den deutschen Krankenhäusern aus Wirtschaftlichkeitsgründen weiter einen Abbau des  „Bettenberges“ zu betreiben (Tatsächlich findet seit August 2020 eine kontinuierliche Reduktion der Intensivbetten an Krankenhäusern in Deutschland statt und damit deren Verknappung.) Eine adäquate Ausrüstung der Alten- und Pflegeheime sowie eine deutliche Verbesserung der Einkommensverhältnisse und Arbeitsbedingungen im Pflegebereich müsste freilich hinzukommen. Dass dies bisher in der Pandemie nicht erfolgte, könnte mit bestehenden Monopolstrukturen bei den Krankenhausträgern zu tun haben, die es aufzubrechen gilt, wenn man eine erfolgreiche Pandemiebekämpfung erreichen will. Außerdem wäre die Krankenhausökonomie vom Wirtschaftlichkeitsdruck schrittweise zu entlasten, um die Häuser wieder ausschließlich in den Dienst einer optimalen Patientenversorgung zu stellen. In dieser Hinsicht könnten die Bundeswehrkrankenhäuser Vorbilder sein. Zum anderen wäre eine flächendeckende Aufklärungskampagne zu starten, mit der die Bevölkerung in einem ruhigen und sachlichen Ton umfassend und differenziert, mit aussagekräftigen Statistiken sowie praktikablen Verhaltensempfehlungen über die Pandemielage, die tatsächlichen Risiken und  Erfolge informiert wird. Ziel müsste es auf jeden Fall sein, den diffusen und irrationalen Ängsten in der Bevölkerung entgegenzuwirken und für freiwillige Vorsicht und Solidarität zu werben. Die Einschränkung der Grundrechte ist dem ebenso abträglich wie die Gefährdung der Existenz zahlreicher Berufsgruppen und Unternehmer.

Ist die Angst als zentrales Medium der Politik aber erst einmal dominierend geworden, dann wird sie sich nicht mehr so leicht aus der Welt schaffen lassen. Dann ist ein fataler Teufelskreis von Anpassungszwängen, Radikalisierung, Depressionen und staatlichem Autoritarismus in Gang gekommen, der sich nur schwer wieder stoppen lässt. Angesichts des Impfdesasters und der laufenden Virusmutationen ist dagegen zu erwarten, dass die gesellschaftliche Toxizität der Angstpolitik wachsen und nebenbei den Weg in den autoritär-paternalistischen Fürsorgestaat ebnen wird. Dieser wird dann nicht mehr durch demokratische Verfahren legitimiert sein, sondern vor allem durch die beständigen Schwingungen des Damoklesschwertes der Inzidenzzahlen. Eine ins Existentielle gehobene Krise verführt geradezu zum Primat eines TINA-artigen Regierungshandelns, der zum idealen Sprungbrett für autoritäre Demokratien in Europa werden könnte. Schließlich gilt der neue politische Imperativ: „Es gibt keine Alternative zum Lockdown in Zeiten einer Pandemie.“ Was für ein Trugschluss!

https://verfassungsblog.de/angst-und-politik-in-der-pandemie/