Die Corona-Dunkelziffer – errechnet von Prof. Dr. Werner Müller
pfmWissenschaft 16. Januar 2022 7 Minutes
Am 4. Januar 2022 reichte das MWGFD-Mitglied Prof. Dr. Werner Müller eine Klage beim Verwaltungsgericht Darmstadt ein, mit der er die Gleichbehandlung von Genesenen mit Geimpften verlangte. Wir haben kürzlich hier darüber berichtet. Seine Klageschrift stützt sich auf umfangreiche statistische Auswertungen. In diesem Gastbeitrag befasst er sich mit einer statistischen Frage, die seit fast zwei Jahren ungeklärt ist.
Gastbeitrag von Prof. Dr. Werner Müller
Seit März 2020 erfasst das Robert-Koch-Institut (RKI) Daten über den Verlauf der Covid-19-Infektionen. Die sind noch immer lückenhaft. Am 30.03.20 wurde eine Modellierung zu der Schwere der Krankheitsverläufe erstellt. Es ist an der Zeit, die damaligen Annahmen mit den inzwischen vorliegenden Statistiken zu vergleichen. Eine offene Frage ist dabei die Größe des Dunkelfeldes. Am 29.12.21 meldete das ZDF unter der Überschrift „Lauterbach: Inzidenz zwei- bis dreimal höher“ dass der Gesundheitsminister von einer „… hohen Dunkelziffer bei den Corona-Neuinfektionen in Deutschland …“ ausginge. Konkrete Belege konnte er für seine Schätzung aber nicht anführen.
Zur Größe des Dunkelfeldes entwickelte die Modellierung vom März 2020 keine Annahmen. Nach ihr würden 4,5 % der Betroffenen in ein Krankenhaus eingewiesen, was ein Drittel der symptomatischen Fälle sein sollten. Daraus ergibt ich, dass sich 86,5 % der Betroffenen nicht krank fühlen und 9 % sich wie bei einer Grippe zuhause auskurieren würden. Das Lauterbach’sche Dunkelfeld dürfte dann also fast vollständig bei den 86,5 % Gesunden zu suchen sein.
Von den 4,5 % hospitalisierten Fällen würden nach der Modellierung 25 % (= 1,125 % der Grundgesamtheit) auf eine Intensivstation verlegt und von ihnen die Hälfte (= 0,5625 % der Grundgesamtheit) versterben. Wären diese Zahlen verlässlich, könnte man aus ihnen sowie den Statistiken der Verstorbenen, Hospitalisierungen und der Intensivstationen auf die Grundgesamtheit zurückrechnen. Weil es sich hier um grobe Einschätzungen aus dem März 2020 handelte, dürfte das nicht der Fall sein. Diese unbekannten Größen müssten allerdings anhand der Erfahrungswerte der Jahre 2020 und 2021 eingeschätzt werden können. Neben den Meldungen der Verstorbenen, Hospitalisierungen und der Intensivstationen müssen für eine Annäherung an eine Berechnung die sog. Neuinfektionen, also die positiv getesteten Personen und Anzahl der durchgeführten Tests zunächst als Zeitreihen dargestellt werden. Das erfolgt zu besseren Visualisierung anhand eines relativen zeitlichen Verlaufs, also als Prozent des Mittelwerts des Vergleichszeitraumes von 90 Wochen. Die Hospitalisierung wird eine Woche nach der gemeldeten Neuinfektion, die Belastung der Intensivstationen eine Woche nach der Hospitalisierung und die Todesfälle eine Woche nach den Werten der Intensivstationen dargestellt. Weiter wird der Sachverhalt auf zwei Grafiken verteilt.
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Abb. 1: relative Tests, Neuinfektionen und Hospitalisierungen
Quelle: eigene Berechnungen auf Basis der Daten des Robert-Koch-Instituts
Die naheliegende Annahme, dass die gemeldeten Neuinfektionen von der Zahl der durchgeführten Tests abhängten, lässt sich aus der Grafik auf den ersten Blick nicht belegen. Hier gibt es größere Abstände zu den anderen beiden Merkmalen.
Abb. 2: Hospitalisierungen, Belastung der Intensivstationen und Todesfälle
Quelle: eigene Berechnungen auf Basis der Daten des Robert-Koch-Instituts
Bei der Auslastung der Intensivbetten handelt es sich um die Belastung und nicht um die Neuaufnahmen. Diese drei Linien liegen sehr nah beieinander. Auffällig sind aber die häufigen Sterbefälle zwischen der 45. und der 7. Kalenderwoche 2020/21.
Um die Grafiken bewerten zu können, wurden zwischen den Größen Rangkorrelationskoeffizienten berechnet. Im Vergleich zu den durchgeführten Tests ergaben sich auf einer Skala von -1 bis +1
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Trotz des im Vergleich zu den anderen Werten geringeren Rangkorrelationskoeffizienten wird für die Tests noch immer ein Wert von deutlich über +0,5 errechnet. Es besteht also ein Zusammenhang, aber kein dominierender. Die Koeffizienten Tests – Neuinfektion, Neuinfektion – Hospitalisierung, Hospitalisierung – Intensivstation und Intensivstation – Todesfälle liegen dagegen über +0,8 und belegen damit einen starken Zusammenhang.
Die Grafiken und die Korrelationskoeffizienten ergeben, dass es einen Zusammenhang zwischen Neuinfektionen, Hospitalisierungen, der Belastung der Intensivstationen und den Todesfällen geben muss. Die Relationen wären dann durch das Virus und die Zusammensetzung der Bevölkerung bestimmt und unterliegen kaum zufälligen Einflüssen. Das bedeutet, dass grundsätzlich eine Rückwärtsberechnung der vollständigen Neuinfektionen anhand der Hospitalisierungen, der Belastung der Intensivstationen und der Todesfälle möglich ist. Die ohne Datenbasis erstellten Schätzungen vom 30.03.2020 dürften dafür aber nicht geeignet sein.
Für die Berechnung wird unterstellt, dass der niedrigste Quotient der 90 Wochen aus der Division von den drei wöchentlichen Zahlen, dargestellt als Prozentsatz, die Berechnungsgrundlage der gesamten Neuinfektionen ergibt. In dieser Woche müsste die Dunkelziffer dann Null ergeben. Weil das natürlich eine unrealistische Annahme ist, kann diese Berechnung nur eine Untergrenze des anzunehmenden Dunkelfeldes ermitteln.
Diese Annahmen würden bedeuten, dass 2,1 % (statt 4,5 % lt. Schätzung) der Neuinfektionen (Hell- und Dunkelfeld) eine Woche später eine Krankenhausbehandlung brauchten, 1,2 % (statt 1,25 % lt. Schätzung) eine Woche später eine Intensivbehandlung benötigten und 0,3 % (statt 0,625 % lt. Schätzung) eine weitere Woche verstarben. Ist das Dunkelfeld größer, werden die Quotienten kleiner. Als Annahme der Dunkelziffer wird dann ein Drittel der Summe der drei Zahlen gewählt. Sofern die größten und kleinsten Werte um mindestens 15 %-Punkte abwichen, wurde dieser Ausreißer von der Bildung des Durchschnitts ausgenommen.
Der grafische Vergleich dieser Vorgehensweise ergibt folgendes Bild:
Abb. 3: Dunkelz. auf Basis von Hospitalisierungen, Belastung der Intensivstationen und Todesfällen
Quelle: eigene Berechnungen auf Basis der Daten des Robert-Koch-Instituts
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Abb. 4: angenommene Dunkelziffer und auf Basis von Hospitalisierungen
Quelle: eigene Berechnungen auf Basis der Daten des Robert-Koch-Instituts
Der Rangkorrelationskoeffizient zwischen den beiden Größen dieser Grafik beträgt 0,973.
Abb. 5: angenommene Dunkelziffer und auf Basis der Belastung von Intensivstationen
Quelle: eigene Berechnungen auf Basis der Daten des Robert-Koch-Instituts
Der Rangkorrelationskoeffizient zwischen den beiden Größen dieser Grafik beträgt 0,955.
Abb. 6: angenommene Dunkelziffer und auf Basis von Todesfällen
Quelle: eigene Berechnungen auf Basis der Daten des Robert-Koch-Instituts
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Der Rangkorrelationskoeffizient zwischen den beiden Größen dieser Grafik beträgt 0,857.
Während die angenommene Dunkelziffer sehr nah an denen auf Basis der Hospitalisierungen und der Intensivstationen liegt, sind zur Dunkelziffer und auf Basis von Todesfällen deutliche Unterschiede feststellbar. Sehr auffällig ist der starke Abfall der Dunkelziffer in der 34. Kalenderwoche des Jahres 2020. Weil die übrigen drei Berechnungsgrundlagen nicht zurückgingen, dürften in dieser Woche zu wenig Todesfälle gemeldet worden sein. Ab der 43. Woche in 2020 müssten die Meldungen dagegen eher zu hoch gewesen sein, denn die übrigen Größen ergeben deutlich niedrigere Neuinfektionen.
Um der Frage der Zuverlässigkeit der Todesfallmeldungen nachzugehen, wird die Sterbefallstatistik des Statistischen Bundesamtes herangezogen. Von diesen Zahlen werden durch Abzug der vom RKI gemeldeten Sterbefälle die Sterbefälle ohne Corona berechnet. Um eine aussagefähige Grafik zu erzeugen, wurden die Todesfälle über dem geringsten Wert errechnet und wie in den vorherigen Grafiken zum Mittelwert der 90 Wochen ins Verhältnis gesetzt.
Zwischen der 47. und der 1. Kalenderwoche ist auch bei den Todesfällen ohne Corona ein deutlicher Anstieg zu erkennen. Weil die Spitze der Sterbefälle mit Corona um den Jahreswechsel 2020/21 zu der Annahme eines höheren Dunkelfeldes führen würde, als sich aus Hospitalisierungen und Intensivstationen ergeben würde, könnte auch hier eine falsche Zuordnung eine plausible Erklärung sein. Um dieser Vermutung nachzugehen, sollen diese Zahlen nach Altersgruppen getrennt werden.
Abb. 7: relative Todesfälle aller Altersgruppen ohne und mit Corona
Quelle: eigene Berechnungen auf Basis der Daten des Robert-Koch-Instituts und des Statistischen Bundesamts
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Abb. 8: relative Todesfälle der Altersgruppe < 60 ohne und mit Corona
Quelle: eigene Berechnungen auf Basis der Daten des Robert-Koch-Instituts und des Statistischen Bundesamts
Abb. 9: relative Todesfälle der Altersgruppe 60-79 ohne und mit Corona
Quelle: eigene Berechnungen auf Basis der Daten des Robert-Koch-Instituts und des Statistischen Bundesamts
Bei den Gruppen ab 60 ist Ende 2020 auch eine Häufung von Todesfällen „ohne Corona“ zu erkennen. Über die Ursache macht das Statistische Bundesamt keine Angaben. Es stellt sich also die Frage, ob es sich um Todesfälle mit und nicht an Corona handelt, und ob sich die Ursache der erhöhten Todesfälle ohne Corona auch auf die positiv Getesteten ausgewirkt hat. Bei den unter-60jährigen ist zu berücksichtigen, dass hier bei wenigen Todesfällen tödliche Unfälle ein deutlich höheres Gewicht haben als bei den Älteren. Es ist möglich, dass die rätselhafte Todesursache davon bei den Jüngeren verdeckt wird.
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Abb. 10: relative Todesfälle der Altersgruppe ab 80 ohne und mit Corona
Quelle: eigene Berechnungen auf Basis der Daten des Robert-Koch-Instituts und des Statistischen Bundesamts
Interessant ist auch, dass in 2021, also nach Anlaufen der Impfkampagne, die Dunkelziffer auf Basis von Todesfällen bis zur 28. und wieder ab der 36. Kalenderwoche deutlich höher lag als die mit den beiden anderen Berechnungsgrundlagen übereinstimmende Annahme. Hier müssten die relativen Todesfälle (in % der Neuinfektionen vor 3 Wochen) bei gleichbleibender Hospitalisierungsrate und Belastungsrate der Intensivstationen gestiegen sein. Die Impfung kann sich also bei den Todesfällen nicht so stark ausgewirkt haben.
Der starke Rückgang der berechneten Dunkelziffern ab der 44. Kalenderwoche in 2021 dürfte wahrscheinlich an der Omikron-Variante liegen. Der Quotient aus den Todesfällen wurde wegen des großen Abstands zu den beiden anderen Größen nicht berücksichtigt. Die hier unterstellte Hospitalisierungsrate von 2,1 % statt 4,5 % lt. Schätzung und die Intensivbehandlungsrate von 1,2 % statt 1,25 % lt. Schätzung dürften bei Omikron weiter unterschritten werden. Für eine Neuberechnung fehlen aber noch die Daten. Inwieweit das auch für die Todesfallrate von 0,3 % statt 0,625 % lt. Schätzung gilt, muss auch noch beobachtet werden.
Die Lauterbach-Schätzung vom Dreifachen bei den sog. Neuinfektionen liegt also im realistischen Bereich. Aus den angestellten Berechnungen würde sich das 2,645fache als Untergrenze ergeben. Wenn man den seit März 2020 gemeldeten 8 Mio. Fällen ein Dunkelfeld von 13,2 Mio. hinzurechnet und 850.000 aktuelle Fälle und 115.000 Verstorbene abzieht, bekommt man 20.235.000 Genesene statt der vom RKI gemeldeten 7 Mio., bzw. nach der Lauterbach-Schätzung 23.035.000. Ohne die Politik der Kontaktbeschränkungen wären es inzwischen mehr!
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